Die einschlägige Fachwelt sowie die von ME/CFS Betroffenen, ihre Angehörigen und die Betroffenenorganisationen haben ihn mit Spannung, aber auch mit Sorge erwartet: Am 15. Mai wurde der Bericht des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) zum „Aktuellen Kenntnisstand zu Myalgischer Enzephalomyelitis / Chronic Fatigue Syndrom (ME/CFS)“ veröffentlicht. Im Februar 2021 hat das Bundesministerium für Gesundheit das IQWiG beauftragt, den aktuellen wissenschaftlichen Kenntnisstand zum Thema ME/CFS fachlich zu aufzubereiten. Auf Basis des Berichtes wurden zudem zusammenfassende Informationen auf der Website gesundheitsinformation.de veröffentlicht.
Bereits im Vorbericht hatte sich abgezeichnet, dass sich das IQWiG an überholten und wissenschaftlich nicht fundierten Studien und Sichtweisen orientierte. Deshalb hatte der Fatigatio e.V. unter Beteiligung der Lost Voices Stiftung bereits zum Vorbericht des IQWiG eine umfassende und wissenschaftlich begründete Stellungnahme eingereicht und diese am 12. Dezember 2022 in der zum IQWiG-Vorbericht umfassend dargelegt.
Das IQWiG hat seinen Bericht im Vergleich zum Vorbericht aufgrund auch unserer im Stellungnahmeverfahren vorgebrachten wissenschaftlichen Argumente und Anregungen in erheblichem Umfang angepasst. Insgesamt wurden im Abschlussbericht einige positive, allerdings auch weitere höchst kritisch zu bewertenden Feststellungen getroffen.
Positiv zu bewerten ist insgesamt:
- die Bestätigung des Schadenspotentials von schrittweiser Aktivierungstherapie (GET) einschließlich der bisher zur Aktivierungstherapie durchgeführten Studien,
- die wesentliche Erhöhung der Prävalenzangabe von ME/CFS,
- die Anerkennung der Post-Exertional Malaise (PEM) als zentrales Symptom von ME/CFS,
- die verbesserte Abbildung von Symptomatik und Schweregraden der Erkrankung,
- die Thematisierung von betroffenen Kindern und Jugendlichen,
- Forderung von Forschung zu Ätiologie, Therapie und Versorgung und
- die Anregung gesteigerter gesamtgesellschaftlicher Aufklärung sowie der Weiterentwicklung von Lerninhalten für Gesundheitsberufe.
Allerdings bleibt der Bericht in einigen Punkten hinter den Erwartungen zurück, insbesondere durch:
- falsche Schlussfolgerungen aufgrund widersprüchlicher Einordnung der bisherigen Forschungsergebnisse zur schrittweisen Aktivierungstherapie (GET),
- eine inhaltlich vage Gesundheitsinformation mangels hinreichender Hinweise auf das Schadenspotenzial von GET,
- unsachgemäße Einflussnahme auf die künftige Meinungsbildung von Fachgesellschaften,
- unzureichende Einordnung der kognitiven Verhaltenstherapie als therapiebegleitendes Element,
- ungenügender Impuls für die Anpassung von schädigenden Rehabilitationsleistungen.
Insgesamt vermittelt der Bericht einen vagen Eindruck von der Schwere und Komplexität der Erkrankung und ihren verehrenden Auswirkungen auf das Leben Betroffener. Mit Korrektur der Prävalenz bestätigt das IQWiG der Erkrankung auch im Kontext der Pandemie ihre erhebliche gesamtgesellschaftliche Tragweite. Auch legt das IQWiG schwerwiegende Defizite in Forschung und Versorgung offen und geht im Rahmen der Anhörung zum Vorbericht auf die folgenschweren Erfahrungen von Betroffenen und Experten ein. In seinen Schlussfolgerungen und Forderungen bleibt der Bericht allerdings hinter den Erwartungen zurück. Trotz aller Bestärkung der weiteren Erforschung von Aktivierungstherapie bleibt es die dringlichste Hoffnung, dass dahinter künftig keinesfalls die biologisch-pathophysiologische Erforschung des Krankheitsbildes zurücksteht.