Immer mehr Patientinnen und Patienten berichten über langanhaltende Symptome nach einer überstandenen Covid-19-Infektion teilweise auch nach einem milden Verlauf. Wenn Symptome wie Kurzatmigkeit, schwere Erschöpfung (Fatigue), Muskelschwäche, Schlaf- und Konzentrationsstörungen noch Wochen und Monaten anhalten und Beschwerden wiederkehren, spricht man von Long-COVID oder Post-COVID.

Es mehren sich die empirischen Hinweise, dass eine COVID-19-Infektion bei einigen Infizierten Spätfolgen mit sich bringen kann. Wie viele Infizierte ein Long-COVID entwickeln, dazu gibt es sehr unterschiedliche Angaben (ca. 10 bis 76%). Das Studien-Design (Untersuchungszeitraum und Erhebungsmethode) und die Schwere der Erkrankung führen zu verschiedenen Ergebnissen. Es braucht mehr klinische Studien, um eine verlässliche Antwort auf diese Frage zu geben.

Laut einer aktuellen Studie der Charité Berlin, konnte bei der Hälfte der Untersuchten mithilfe der Kanadischen Konsenskriterien ME/CFS diagnostiziert werden. Das häufigste Symptom (n=41) war die Post-Exertional Malaise (PEM). Es handelt sich um eine Zustandsverschlechterung nach körperlicher oder geistiger Aktivität, die häufig zeitverzögert nach 24 Stunden nach der Belastung auftritt. Die meisten Untersuchten sind moderat bis schwer im alltäglichen Leben eingeschränkt. Die häufig milde Erstinfektion mit dem SARS-CoV-2-Erreger lag bei allen 42 Teilnehmenden sechs Monate zurück und das Durchschnittalter lag bei 36.5 Jahren. Frau Scheibenbogen schätzt, dass circa die Hälfte der Infizierten, die ein Long-COVID entwickeln, ME/CFS Diagnosekriterien erfüllen könnten.

Die neuroimmunologische Erkrankung Myalgische Enzephalomyelitis (ME), die oft noch als Chronisches Fatigue-Syndrome (CFS) bezeichnet wird, entsteht häufig durch eine Virusinfektion. Aufgrund dieser Tatsache und der bisherigen Studien wird vermutet, dass die gegenwärtige Pandemie einen Anstieg an Betroffenen weltweit zu Folge haben könnte.

Frühere Studien bestätigen die Parallele zwischen der viralen SARS-Epidemie von 2003 und dem verstärkten Auftreten von ME/CFS. Von 233 Hongkonger Krankenhaus-SARS-Überlebenden, die vier Jahre nach dem Virusausbruch untersucht wurden, berichteten 40 % über ein chronisches Erschöpfungsproblem und bei 27 % wurde ME/CFS diagnostiziert. Analog dazu wies eine Kohorte von Beschäftigten des Gesundheitswesens während der Epidemie 2003 in Toronto ME/CFS-Symptome auf und konnte nicht an ihren Arbeitsplatz zurückkehren.

ME/CFS wird von der Weltgesundheitsorganisation bereits seit 1969 als organisch-neurologische Erkrankung klassifiziert (ICD-10: G 93.3). In Deutschland sind schätzungsweise 250.000 Menschen in Deutschland betroffen. ME/CFS tritt meistens zwischen 10 und 39 Lebensjahr auf. Frauen sind dreimal häufiger betroffen als Männer. Etwa 25% der Betroffenen sind bettlägerig und pflegebedürftig. Die genaue Ursache von ME/CFS ist noch nicht bekannt. Es wird eine Autoimmunerkrankung vermutet, wobei eine Fehlfunktion des Immunsystems, des autonomen Nervensystems und des zellulären Energiestoffwechsels besteht. Zu den Symptomen gehören unter anderem Fatigue, Muskel-, Kopf- und Gelenkschmerzen, Schlaf- oder Konzentrationsstörungen und ein anhaltendes Infektionsgefühl. Hauptsymptom ist eine ausgeprägte Belastungsintoleranz, die sogenannte Post-Exertional Malaise.

Obwohl die Erkrankung gar nicht so selten ist, oft zu schweren Behinderungen führt und die Lebensqualität erheblich mindert, gibt es bundesweit keine adäquate medizinische, soziale und pflegerische Versorgung für ME/CFS-Erkrankte. ME/CFS wird oft nicht diagnostiziert, da die meisten Ärzte es kaum kennen oder es für eine psychische Erkrankung oder Burnout halten. Zudem ist die Erforschung von ME/CFS weltweit und auch in der EU unterfinanziert und erfolgt primär durch private Stiftungen. So hat das Europäische Parlament im Juni 2020 eine Resolution verabschiedet. Sie fordert darin unter anderem die Anerkennung von ME/CFS und mehr zusätzliche Finanzmitteln für die biomedizinische Forschung dieser Erkrankung ein. Erst dieses Jahr wurden erste Gelder durch den G-BA Innovationsfonds für dieses Forschungsthema bereitgestellt. Es ist ein wichtiger Schritt. Es sind allerdings weitere Forschungsanstrengungen notwendig, um nach jahrzehntelanger vernachlässigter Forschung wissenschaftliche Durchbrüche zu erzielen.

Denn es gibt bisher leider keine Heilung und kein Medikament, das speziell für die Behandlung von ME/CFS zugelassen ist. Die Behandlung konzentriert sich darauf, einzelne Symptome zu lindern und im Rahmen des Pacings mit den verbliebenen Ressourcen schonend umzugehen. Das bedeutet, dass Betroffene ihre Belastungs- oder Aktivitätsgrenzen akzeptieren sollten, um schwere und lang andauernde Rückfälle, sogenannte „Crashs“, zu vermeiden. Leider werden viele ME/CFS-Erkrankte in Deutschland bis heute trotz empirischer Daten mit potenziell schädigenden Therapien z.B. körperliche Aktivierung im Rahmen von Reha-Maßnahmen behandelt, die zu einer (irreversiblen) Verschlimmerung der Symptomatik führt.
Angesicht der zunehmenden Zahl von Long-COVID-Betroffenen und damit von möglichen ME/CFS-Erkrankten, ist es zentral, das Wissen zu ME/CFS unter Ärzten auszubauen, ME/CFS als eine organische Erkrankung anzuerkennen, adäquate Therapien und Versorgung anzubieten, Fehlbehandlungen zu vermeiden und Forschungsaktivitäten zu intensivieren. Die Fehler der Vergangenheit dürfen sich nicht wiederholen.

Forschungsförderung und klinische Studien weltweit könnten einen Paradigmenwechsel generieren, um postinfektiöse Erkrankungen wie ME/CFS verstehen und heilen zu können.

Weiterführende Informationen zu Long-COVID
Die Informationsseite zur weltweiten Selbsthilfegruppe für alle Deutschsprachigen
Corona-Selbsthilfegruppen
Post-COVID-Sprechstunde der Charité
Corona-Langzeitfolgen: Schwere Versorgungsmängel beim Chronischen Fatigue Syndrom
Rätsel Corona: Wenn die Symptome bleiben
Long-COVID – Was ist das? | Charité | Prof. Dr. Carmen Scheibenbogen